Thyssenkrupp verliert jeden Tag Geld. Konzernchef Miguel López verrät, wie er den Niedergang aufhalten will und spricht über den Existenzkampf einer deutschen Ikone, unfähige Manager und die Irrtümer der Politik.
Herr López, Sie sind vor einem guten Jahr als Aufräumer bei Thyssenkrupp angetreten. Was bleibt am Ende von der einstigen deutschen Industrieikone übrig?
Ich bin angetreten, um einen Niedergang zu stoppen, der lange vor meiner Zeit begonnen hat. Ich will die Zukunft des Konzerns sicherstellen.
Thyssenkrupp kämpft um seine Existenz?
Das Wort „Existenznot“, das manchmal zu lesen ist, halte ich für übertrieben. Wir haben eine recht gesunde Bilanz. Aber: In der Außenbeurteilung sind wir in einem „non-investment-grade“.
Auf Deutsch: Die Börse stuft Sie als Ramsch ein.
Es gibt feinere Abstufungen im Urteil der Märkte. Unser Ziel ist jedenfalls, uns wieder nach oben zu kämpfen, zurück ins „Investment grade“ zu kommen. Dafür brauchen wir einen soliden Zufluss an flüssigen Mitteln, also an Geld. Es kann kein „Weiter so“ geben. Denn Thyssenkrupp hat über viele Jahre hinweg keinen gesunden Cash-Zufluss generiert.
Der Konzern verliert jeden Tag Geld. Es fließt mehr raus aus der Kasse, als reinkommt.
Bezogen auf das laufende Geschäft stimmt das, ja. Aber: Der Verkauf der Aufzugssparte im Jahr 2017 hat rund 17 Milliarden Euro in die Kasse gespült, deshalb stehen wir momentan quasi ohne Schulden da. Das bewahrt uns freilich nicht davor, dass wir im laufenden Betrieb Geld verdienen müssen. Denken Sie zum Beispiel an unsere Eigentümer: Seit 2011 gibt es für die Aktionäre keine verlässliche Dividendenzahlung mehr.
„Wir müssen besser werden“
Wie stark beeinträchtigt die komplizierte Aktionärsstruktur Ihre Aufgabe? Da sind Hedgefonds und schwer berechenbare Kleinaktionäre, ein tschechischer Milliardär und die gemeinnützige Krupp-Stiftung…
…das Gegenteil ist der Fall. Dass wir die Stiftung als Ankeraktionär haben, unterstützt uns sehr. Das ist ein ausgesprochener Vorteil für alles, was wir vorhaben. Die Aufgaben sind seit meinem Antritt sehr klar. Wir müssen besser werden, wir vereinfachen Konzernstrukturen und haben bereits die Abspaltung von der Stahl- und Marine-Sparte als eigenständige Einheiten angestoßen.
Der Konzern schrumpft so immer weiter: Wo genau ist Thyssenkrupp falsch abgebogen? Was ist die Ursache der Misere? Unfähige Manager oder schlicht die Veränderungen am Weltmarkt?
Darüber ließe sich trefflich debattieren. Nur: Dies zu erörtern, sollten wir anderen überlassen, Historikern etwa, die sich mit Wirtschaftsgeschichte befassen. Ich kümmere mich um die Zukunft des Konzerns, das ist mein Job. Ich analysiere mit dem Vorstandsteam die Situation und schaue mit ihnen, wie wir die Ziele erreichen: Welche Elemente müssen wir dafür verändern? Und was ist in den einzelnen Geschäften zu tun?
„In 200 Jahren verändert sich nun mal viel“
Sicher ist: Die Zeiten von Glanz und Gloria, wie sie die Villa Hügel in Essen als Sitz der Krupp-Stiftung repräsentiert, sind vorbei. Was bedeutet das für das Selbstverständnis im Konzern?
In 200 Jahren verändert sich nun mal viel, das ist die Realität. Die müssen wir akzeptieren, genauso wie wir die Erfolgsgeschichte anerkennen. Das bedeutet: Wir müssen wieder eine Performancekultur in das Unternehmen tragen.
Mehr Leistung, weniger Privilegien?
Ein Wandel, der wehtut, ja. Das ist eine anspruchsvolle, kommunikative Aufgabe für das Management, weil es bedeutet, den Beschäftigten klarzumachen, dass die Leistung, die Performance nicht den Ansprüchen und auch nicht den Anforderungen entsprochen hat. Das muss gesagt werden dürfen, und es wird auch gesagt. Wir sind jetzt mit klarem Blick nach vorne unterwegs, mit einem neuen Managementteam, mit dem wir die gesetzten Zielmarken erreichen werden und damit das Unternehmen in eine gute Zukunft führen. Thyssenkrupp ist ein großartiges Unternehmen und wir müssen dieses großartige Unternehmen in eine andere, in eine bessere Position bringen. Die Ingredienzen dafür sind da, allerdings gibt es Widerstand aus einigen Ecken.
Wie viele der Führungskräfte haben Sie deshalb ausgetauscht?
Von den 150 Top-Managern haben rund 40 Prozent gewechselt – insbesondere aus Altersgründen. Wir haben die Posten intern und extern neu besetzt. Heute haben wir ein jüngeres Team, supermotiviert. Viele junge Leute, die zu uns kommen, schrecken die Herausforderungen in unserem Unternehmen nicht ab. Im Gegenteil. Sie sagen: Ich möchte Teil dieser Industrie-Ikone sein und etwas bewegen.
Gegen die Abspaltung der Stahlsparte gab es erbitterten Widerstand, vom Betriebsrat bis zum Top-Management. Wie hart muss man in Ihrem Job sein?
Entscheidend sind immer die Fakten. Im Stahlbereich haben wir in den letzten fünf Jahren 3,2 Milliarden Euro an Free Cashflow verbraucht. Allein 2023 fielen gut zwei Milliarden Euro Verluste an. Die Performance blieb deutlich hinter den Erwartungen zurück. Auf dieser Grundlage forderten wir als Mutterkonzern von den Stahl-Vorständen einen Business-Plan, der langfristig die Finanzierung der Hütte sichert. Diese Aufgabe wurde nicht so erfüllt, wie es notwendig gewesen wäre. Und wenn ein Team einen Plan nicht ausarbeitet wie erforderlich, brauchen wir eben ein anderes Team. Im Kern ging es in dem Konflikt nicht um Macht, sondern um die Zukunft des Stahls.
„Nur so bleibt unser Stahlgeschäft langfristig erhalten“
Am Ende gingen sieben Spitzenkräfte, darunter Aufsichtsratschef Sigmar Gabriel, der Sie hart attackiert hat. Was erwarten Sie von den neuen Stahl-Managern?
Vor allem eine Weiterentwicklung des Business-Plans, damit das Stahlsegment profitabel aufgestellt werden kann. Gleichzeitig muss die Transformation zum grünen Stahl in diesen eingearbeitet werden. Denn nur so bleibt unser Stahlgeschäft langfristig erhalten.
Die Gewerkschaften fürchten den Verlust von 10000 Arbeitsplätzen, gar das Ende vom Stahl in Duisburg. Wie berechtigt sind diese Sorgen?
Wir arbeiten hart daran, das Gegenteil zu erreichen. Wir wollen eine stabile Hütte: technologisch vorne, wettbewerbsfähig aufgestellt, langfristig orientiert – auf Jahrzehnte. Fakt ist aber auch: Wir haben in der Stahlproduktion derzeit eine installierte Gesamtvolumenkapazität von 11,5 Millionen Tonnen. In den vergangenen fünf Jahren lag das Versandvolumen aber nur bei gut 9 Millionen Tonnen. Es muss also eine Anpassung her, dieser Erkenntnis widerspricht übrigens keiner.
An Rhein und Ruhr wurde die letzten Jahrzehnte eine Hütte nach der anderen dichtgemacht, stirbt der Stahl auf Raten? Steht Deutschland bald ganz ohne Stahlproduktion da?
Das wäre ein großer Fehler. Deutschland und Europa benötigen eine starke Stahlproduktion. Als Werkstoff steckt er fast überall drin. Natürlich muss er wettbewerbsfähig sein. Technologisch hochwertige Produkte, Spezialstähle werden hierzulande eine Chance haben. Das wird bei uns gegeben sein, wenn wir jetzt die nötigen Anpassungen vornehmen.
Der Staat steckt Milliarden in den grünen Umbau des Stahls, auch bei Thyssenkrupp – und mischt sich entsprechend ein. Wie viel Politikeinfluss hält ein Unternehmen aus?
Es ist völlig legitim von der Politik, Fragen zu stellen und Vorstellungen zu äußern, gerade mit Blick auf die umfangreichen Förderungen. Wir packen die grüne Transformation an. Und wie wir das wettbewerbsfähig meistern, das besprechen wir mit unseren staatlichen Fördermittelgebern.
Der designierte Grünen-Chef Felix Banaszak warf Ihnen vor, dass Sie mit Ihrem brachialen Kurs die Aufbruchstimmung im Konzern abwürgen. Was entgegnen Sie?
Wir haben ein klares Programm – für eine wettbewerbsfähige und profitable Zukunft, und damit auch für die 100000 Menschen im Unternehmen. Natürlich wird es Einschnitte geben. Anders geht es nicht. Die Aufbruchstimmung wird aber dann entstehen, wenn wir das Unternehmen wieder erfolgreich aufstellen. Da bin ich mir sicher.
Das viele Geld vom Steuerzahler fließt für die Umstellung auf grünen Wasserstoff, doch den gibt es noch gar nicht. Ist das Ganze also nicht mehr als eine waghalsige Wette auf die Zukunft?
Für uns nicht. Schon als wir uns für den Bau dieser Direktreduktionsanlage entschieden haben, waren wir technologieoffen. Man kann sie mit grünem Wasserstoff betreiben, aber auch mit Erdgas. Insofern machen wir uns nicht unbedingt abhängig vom Wasserstoff. Bereits mit Gas sparen wir sehr viel CO₂ ein, nämlich gut 50 Prozent, mit Wasserstoff dann 100 Prozent. Wir machen den Stahl aber auch so schon deutlich grüner.
Wie lange sollen diese Anlagen denn mit Erdgas laufen – oder braucht es für den Übergang rasch blauen Wasserstoff?
Die Frage wird sein, wann Wasserstoff wettbewerbsfähig produziert werden kann – und wann er in ausreichender Menge vorhanden ist. Aktuell vergleichen wir die Marktpreise für grünen Wasserstoff und dem sogenannten „blauen“, der aus Erdgas hergestellt wird, mit dem von herkömmlichem Erdgas.
„Günstiger Grünstrom“
Was braucht es nun, um den Wasserstoffmarkt ans Laufen zu bekommen?
Erstens muss der Grünstrom günstig und in ausreichender Menge vorhanden sein. Denn, wenn wir ein günstiges Molekül wollen, brauchen wir auch ein günstiges Elektron. Zweitens brauchen wir eine Infrastruktur für den Transport…
…die bisher nicht existiert…
…vor allem nicht dort, wo es den wettbewerbsfähigen grünen Strom gibt. In Europa sind das genau zwei Regionen: Skandinavien und die iberische Halbinsel. Wir bräuchten also Pipelines, um den Wasserstoff nicht teuer per Schiff transportieren zu müssen. Hier sind die Bundesregierung und die EU gefordert.
Und drittens?
Kommt es auf die Endverbraucher an. Die Frage, die sich stellt, ist: Wie viel an zusätzlichen Kosten sind die Menschen bereit, zu tragen, weil die Produkte fortan grün sind?
Das Beispiel E-Autos macht da wenig Hoffnung: Solange sie so teuer sind, kauft sie keiner.
Ein richtiges Beispiel, das greife ich gerne auf. Ist grüner Stahl in einem Auto verbaut, wird es viele Hundert Euro teurer werden, vielleicht sogar noch mehr. Das macht für die meisten Kunden einen entscheidenden Unterschied. Die Forderungen der Automobilhersteller an uns werden deshalb immer lauten: Du musst mit Deinem grünen Stahl wettbewerbsfähig sein, sonst werden wir die Autos nicht los. Es ist also noch viel zu tun.
Minister Robert Habeck nimmt für sich eine tragende Rolle auf dem Weg zur Klimaneutralität in Anspruch: Wie viel Staat braucht es in der Wirtschaft?
Die Infrastruktur in Europa sollte klassischerweise staatlich organisiert werden. Ihre Bereitstellung ist eine Aufgabe des Staates. Das ist meine Überzeugung. Aber: Für die Wettbewerbsfähigkeit des Wasserstoffs müssen die Unternehmen am Ende, selbst sorgen, wenn der Hochlauf, der ja staatlich unterstützt wird, abgeschlossen ist. Von weiteren, dauerhaften Subventionen in energieintensive Unternehmen würde ich Abstand nehmen.
Die Energiepreise sind weit höher als im Ausland. Was kann die deutsche Regierung dagegen tun?
Wenn wir über wettbewerbsfähigen Grünstrom reden, kann eigentlich nur von Skandinavien oder der iberischen Halbinsel die Rede sein. Ich habe bislang noch keine Lösung gesehen, mit der in Mitteleuropa grüner Strom wettbewerbsfähig produziert werden kann. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich einen spanischen Pass habe. Die Kosten für Grünstrom in Norwegen und Schweden werden immer geringer sein als in Deutschland. Dort gibt es schlicht mehr Wasser, mehr Wind und mehr Platz für Offshore-Windparks. Für uns ist daher das Angebot an Stromnetzen entscheidend.
„Netzentgelte müssen entfallen“
Und die sind Sache der Regierung?
Richtig. Bestenfalls haben wir eine kohärente Energiepolitik in Europa, die sich gebündelt um die Bereitstellung der Netzinfrastruktur kümmert, und zwar kostendeckend. Das bedeutet zum einen: Die Netzentgelte müssen entfallen. Zum anderen muss auf den wettbewerbsfähigsten grünen Strom zurückgegriffen werden.
Hierzulande wird der nie zu holen sein?
Aus meiner Sicht nein, ich sehe nicht, wie grüne Energieerzeugung in der nötigen Größenordnung in Deutschland jemals zu wettbewerbsfähigen Preisen realisiert werden kann.
Das heißt: Wir können uns die ganzen Subventionen zum Aufbau von Solar- und Windanlagen sparen, wenn die in Deutschland eh keine Chance haben auf Dauer?
So sehe ich das. Mein Punkt ist ganz einfach, pure Mathematik: Wenn Sie die Kosten von grünem Strom in Schweden, Norwegen, auf der iberischen Halbinsel oder in den USA mit denen hierzulande vergleichen, und in die Zukunft projizieren, ist das Ergebnis immer dasselbe: Solar rechnet sich in Deutschland nicht und Windanlagen werden wir bei uns nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung haben. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Für die Direktreduktionsanlage, die wir derzeit in Duisburg bauen, wären gut 800 Windkraftanlagen nötig, um den benötigten Energiebedarf aus Grünstrom und zur Wasserstoffherstellung zu decken. Und unsere DR-Anlage ersetzt lediglich einen Hochofen. In Duisburg haben wir aber vier davon.
Abgesehen von der leidigen Energieproblematik: Wo sehen Sie die größten Probleme, wenn Sie auf den Standort Deutschland schauen?
Für mich gehört die Entwicklung der Personalkosten dazu, vor allem im Verhältnis zur Produktivität, die nicht entsprechend mitwächst. Das belastet hierzulande alle Branchen, die in einem harten internationalen Wettbewerb stehen, so wie unsere. Auch Steuern, Abgaben, eine überbordende Bürokratie und der bedenkliche Zustand der Infrastruktur sind ein Problem. Gerade in Zeiten der grünen Transformation wiegt dies schwer.
Fürchten Sie deshalb eine Deindustrialisierung? Verlassen die Fabriken Deutschland?
Ja, der Prozess hat bereits begonnen. Wir befinden uns in einer Deindustrialisierung. Und da müssen wir unbedingt gegensteuern, denn die Stärke der deutschen Wirtschaft war immer die Industrie.
Und die ist jetzt verloren?
Noch haben wir eine Chance, wenn wir uns wieder auf die Bedürfnisse der Industrie konzentrieren.
Sie fordern noch mehr Staatshilfe?
Nein. Ich meine explizit nicht Subventionen oder andere staatliche Förderungen, sondern Maßnahmen, welche die Attraktivität des Standortes steigern. Schauen Sie beispielsweise auf London: Wenn Sie als Arbeitnehmer dorthin ziehen, genießen Sie über einen gewissen Zeitraum einen Steuervorteil. Damit konnten die Briten viele attraktive Arbeitsplätze in der Stadt schaffen und haben gut situierte Steuerzahler in die englische Metropole gelockt. Was für die Finanzwirtschaft in Großbritannien gewirkt hat, kann für die Realindustrie hierzulande auch genutzt werden. Es gibt viele gute Modelle weltweit, die wir uns anschauen und kopieren sollten, um den Standort Deutschland attraktiv zu machen. Es braucht Anreize – nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Arbeitnehmer aus dem Ausland. Dann hat unsere Industrie eine Zukunft.
Wenn wir in die Zukunft blicken: Wann ist Ihre Mission bei Thyssenkrupp erfüllt? Was soll eines Tages übrig bleiben von Ihrer Amtszeit bei diesem Traditionsunternehmen?
Ich lasse mich gerne an den drei Themen messen, die wir uns vorgenommen haben: am Erreichen der finanziellen Zielmarken, am Umbau des Portfolios mit einer selbstständigen Stahl- und Marinesparte. Und natürlich am Erfolg der grünen Transformation. Das sind meines Erachtens die entscheidenden Faktoren, wenn wir das großartige Unternehmen Thyssenkrupp in eine gute Zukunft führen wollen.