Sahra Wagenknecht will, dass Deutschland seine Aussen- und Sicherheitspolitik grundlegend ändert. Ihre Partei sieht die USA als globalen Aggressor – und schreckt dabei vor Lügen nicht zurück.
Sahra Wagenknecht kann ihre Botschaften so präzise unters Volk bringen wie nur wenige deutsche Politiker. Am 3. Oktober, dem Nationalfeiertag, steht sie im schwarzen Mantel auf einer Bühne in Berlin. Vor ihr eine Menschenmenge, hinter ihr ein riesiger Schriftzug: «Die Waffen nieder.» Wagenknecht spricht über die Kriege in der Ukraine und in Nahost.
«Wir müssen diese verdammten Raketen verhindern!», ruft sie. Damit sind nicht die Raketen gemeint, die in der Ukraine oder dem Nahen Osten vielen Menschen den Tod gebracht haben. Wagenknecht meint die geplante Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland, die der Abschreckung gegen Russland dienen sollen. Glaubt man Wagenknecht, bringen sie Deutschland «in die Ziellinie russischer Atomraketen».
Mit dieser Rhetorik ist Wagenknecht auf Erfolgskurs: Sie gründete vor knapp einem Jahr eine neue Partei, die bei den Wählern sofort Anklang fand. In den ostdeutschen Bundesländern Thüringen und Brandenburg ist das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) nun Teil der Regierung, im Bundesland Sachsen sitzt es im Landesparlament.
Wagenknecht punktet bei Menschen, die sich von den etablierten Parteien abgewandt haben und westliche Waffenlieferungen an die Ukraine für Teufelszeug halten. Sie verkürzt ihre Botschaften bis zur Schmerzgrenze. Auf einem ihrer Wahlplakate stand: «Krieg oder Frieden? Sie haben jetzt die Wahl.»
Für ihre Partei scheint es auf der Hand zu liegen, von wem der Unfrieden ausgeht. Die grösste sicherheitspolitische Bedrohung sieht das BSW in den USA. Besonders klar wird das an einem Satz aus dem Programm der Partei. Dort steht: «Eine Militärallianz, deren Führungsmacht in den zurückliegenden Jahren fünf Länder völkerrechtswidrig überfallen und in diesen Kriegen mehr als eine Million Menschen getötet hat, schürt Bedrohungsgefühle und Abwehrreaktionen und trägt so zu globaler Instabilität bei.»
Der Satz ist in mehrerlei Hinsicht ungewöhnlich. Er stellt eine spektakuläre Behauptung auf, bleibt aber an entscheidenden Stellen vage. Mit der Militärallianz ist die Nato gemeint und mit der Führungsmacht die USA. Doch welche Staaten sind die «fünf Länder»? Auch «in den zurückliegenden Jahren» ist eine unscharfe Formulierung. Gravierender ist freilich der Vorwurf, die USA hätten diese Staaten «völkerrechtswidrig überfallen» und dabei mehr als eine Million Menschen getötet.
Auf Nachfrage der NZZ sagte ein Sprecher des BSW, bei dem Zeitraum handele es sich um die Spanne seit dem Jahr 1990. Mit den fünf Ländern seien Serbien, Afghanistan, der Irak, Libyen und Syrien gemeint. Die Zahl von einer Million Toten gehe aus «Berichten internationaler Organisationen» hervor.
An diesem Punkt stellt sich die Frage: Enthält das Programm des BSW einen Satz, der letztlich eine Lüge ist?
Eine seriöse Quelle für Opferzahlen in Kriegen ist das Uppsala Conflict Data Program (UCDP). Es wird von der Universität in der schwedischen Stadt Uppsala betrieben. Nimmt man die seit dem Jahr 1990 in den genannten Ländern geführten Kriege zusammen, kommt man laut dem UCDP auf fast 800 000 Tote.
Allerdings gehen die Angaben zu Opferzahlen in Kriegen meistens stark auseinander. So zählt das UCDP im kürzlich beendeten syrischen Bürgerkrieg 410 000 Tote. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte geht indes von mindestens 618 000 Toten aus.
Sollte sie richtig- und das UCDP falschliegen, wären in den vom BSW genannten Staaten seit 1990 womöglich tatsächlich rund eine Million Menschen umgekommen.
Doch das BSW geht weit über diese Aussage hinaus. Man behauptet dort nicht, die Gesamtzahl der Opfer liege bei mehr als einer Million. Im BSW-Programm steht, nur schwach verklausuliert, die USA hätten in diesen Konflikten mehr als eine Million Menschen umgebracht.
Richtig ist, dass die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan und im Irak Kriege geführt haben, die man aus guten Gründen kritisch sehen kann. Bei diesen beiden Invasionen und bei weiteren Konflikten kamen zahlreiche Menschen durch amerikanische Streitkräfte ums Leben. Wie viele genau, ist unklar. Es existiert aber keine seriöse Quelle dafür, dass die USA in diesen Kriegen auch nur annähernd eine Million Menschen getötet hätten.
Nicht bloss in diesem Punkt gehen Fakten und Fiktion beim BSW Hand in Hand. Der Historiker Moritz Pöllath von der Ludwig-Maximilians-Universität München sagt: «Der Krieg im Irak war ein imperialistisches Abenteuer von George W. Bush und nicht mit dem Völkerrecht vereinbar. Bei allen anderen vom BSW genannten Ländern ist die Formulierung ‹völkerrechtswidrig überfallen› grenzwertig – oder im Fall von Syrien sogar komplett falsch.» Er hält den Satz aus dem BSW-Programm für manipulativ. Ziel sei es, die USA als globalen Aggressor darzustellen.
Er nennt ein Beispiel dafür, dass die vom BSW genannte Zahl nicht stimmen kann. Was den Irakkrieg angehe, sei es falsch, alle Toten den Amerikanern zuzuschreiben. «Sie sind für etwa ein Drittel der Opfer verantwortlich. Die restlichen Opfer sind das Resultat von Banditentum, Islamismus und Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen im Irak», sagt Pöllath.
Ausführlich mit dem Irakkrieg beschäftigt hat sich der Politologe Stephan Bierling von der Universität Regensburg, der generell zur Vorsicht im Umgang mit Todeszahlen in Kriegen rät. Diese seien oft «politisch hoch- oder runtergerechnet». Laut dem UCDP starben in den beiden Irakkriegen und den daraus folgenden Konflikten etwa 127 000 Menschen. Andere Quellen gehen von höheren Zahlen aus.
Mutmasslich sind in der Wahrnehmung vieler Menschen die Amerikaner für das Sterben im Irak verantwortlich. Bierling legt hingegen Wert darauf, die Zahlen im Kontext zu sehen. Auch er sagt, die meisten Iraker seien nicht von Amerikanern getötet worden. Noch wichtiger ist aus seiner Sicht, die Zeit vor der amerikanischen Intervention zu betrachten, in welcher der Diktator Saddam Hussein für zwei Millionen Tote verantwortlich gewesen sei – wegen der Attacken gegen Kurden und Schiiten sowie des Kriegs gegen Iran.
Diese Zahlen dürften in westlichen Staaten den wenigsten Bürgern bekannt sein. Sie passen nicht zu einem Antiamerikanismus, der darauf hinausläuft, die USA für die grossen Konflikte verantwortlich zu machen – und wo gerne der Krieg gegen den Irak als Beleg dafür angeführt wird.
Diese Weltanschauung ist in vielen Ländern anzutreffen, scheint in Deutschland aber besonders anschlussfähig zu sein. Bierling sieht dafür historische Gründe: Rechts der politischen Mitte gehe der Antiamerikanismus nicht zuletzt auf die Nationalsozialisten zurück. Links der Mitte stamme er aus der Zeit des Kalten Krieges. «Damals wurden die Ostdeutschen antiamerikanisch und gegen die Nato indoktriniert», sagt er. Das BSW vereine nun nationalistischen und linken Antiamerikanismus.
Auch der Historiker Pöllath sieht die Aussage des BSW über die USA als Teil einer langanhaltenden Desinformationskampagne, die in der deutschen Öffentlichkeit auf fruchtbaren Boden falle. Dies zeigte sich nicht zuletzt in der Debatte um die eingangs erwähnten amerikanischen Mittelstreckenraketen, die in Deutschland stationiert werden sollten. Sie würden der Abschreckung gegen Russland dienen, doch die Pläne für die Stationierung lösten in Teilen der deutschen Öffentlichkeit Unmut aus.
Pöllath weist in dem Zusammenhang auf russische Raketen hin, die in der Exklave Kaliningrad stationiert sind. Diese Raketen seien auf Deutschland gerichtet und wahrscheinlich nuklear bestückt. «Sie könnten Berlin innerhalb von fünf Minuten erreichen. Gegen diese Raketen protestiert niemand.»
Wenn das BSW zur Entspannungspolitik gegenüber Russland aufruft, wird über solche Dinge geschwiegen, weil sie nicht ins Bild passen würden. Beim besagten Satz im Wahlprogramm des BSW kann man nicht einmal mehr von einer tendenziösen Interpretation der Fakten sprechen. Er ist schlichtweg falsch.